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In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 01:06
von Pietro
In Südtirol

Wir fahren nach Italien, nach Südtirol. In einem Abteil ganz allein, ohne umsteigen zu müssen, das ist so, als ob man allein und frei wäre und doch weiß man sich unter vielen Menschen im langen, schnellen Zug. Nach Rosenheim verlassen wir das flache Land und immer höher steigen wir bis zur Grenze in Kufstein und wieder zur Grenze am Brenner. Dann beginnt eine andere Welt, italienische Laute, italienische Menschen. Bis Bozen lautet unsere Fahrkarte, wir aber bedenken jetzt, daß wir in dieser herrlichen Natur bleiben und den Trubel großer Städte meiden sollten. So verlassen wir den Zug schon in Klausen und haben es nicht zu bereuen.
Heiße Luft umfängt uns, das Gepäck lassen wir zunächst im Bahnhof und gehen in die kleine Stadt hinein, die im Grunde genommen nur aus einer engen Strasse besteht, die links und rechts von uralten Häusern eingeschlossen ist. Am Hauptplatz finden wir sogleich ein sauberes Zimmer im Gasthaus zum Hirsch. Ein munter plätscherner Brunnen lässt sich vernehmen und die süß flötende Stimme eines Kanarienvogels, dessen Käfig an der gegenüber liegenden Wand eines Hauses hängt. Vor der Haustüre unter der Rebenlaube essen wir zu Abend, über uns hängen die Weintrauben im Laubengewinde; vor uns das heitere, lebhafte Getriebe der Einheimischen und Fremden. Nachts gehen wir lange durch die Strassen, in denen die altertümlichen Geschirrläden immer noch geöffnet sind. Alles flaniert zum Hauptplatz, um sich dort von der Tageshitze zu erholen.
Ein strahlend heller Tag am anderen Morgen findet uns bereit, uns genau umzusehen. Wieder zeigt sich der Schutzmann auf der Strasse, ganz in Weiß gekleidet, mit weißen Handschuhen, die er auch bei größter Hitze nicht ablegt. Er ist von früh bis spät auf den Beinen, ohne eigentlich tätig zu werden. Es genügt wohl, daß er da ist und die Autorität verkörpert: Nie mit Amtsmine, sonder immer mit Zuvorkommnis, freundlich, hilfsbereit. Auch Alpinis mit ihren schmucken Federhüten zeigen sich, die überall die Brennerlinie bewachen. Noch immer kommt es vor, daß Hochspannungsmasten gesprengt werden. Ich vermeide es daher möglichst, mich dahin zu begeben, wo solche Masten sind, um nicht verdächtig zu erscheinen.
Wir steigen bergan, hinauf zur Burg, die aber bewacht wird und nicht besichtigt werden kann. Weiter geht es hinauf auf den Felsen, auf dem das Kloster Säben thront. Oben herrscht vollkommene Stille. Keine Nonne zeigt sich. Wir betreten die Kirche, wir sind allein. Und doch hören wir den Gesang einer Litanei unsichtbarer Nonnen; es ist wie der Gesang abgeschiedener Seelen. Zwei weitere Kirchen betreten wir, in denen eine mit prächtigen Wandgemälden, Säulenhallen in perspektivischer Sicht darstellend, bedeckt ist.
Draußen am Vorplatz gibt ein Brunnen dem ausgedörrten Gaumen die dringend nötige Kühlung. Wir haben weniger das Gefühl, auf Klosterpfaden zu wandeln, als vielmehr in einer Festung zu sein, deren Zinnen und Türme den Platz beherrschen. Und wirklich war dieser hohe Felsen immer von Bedeutung für dieses Eisacktal, in dem die Völker nach Süden drängten. Einst waren es die Römer und dann die Bischöfe, die hier ihren Sitz nahmen. Eine christliche Akropolis kann man diese Stätte nennen, von der wir jetzt in flirrender Hitze den steilen Felsweg nach unten nehmen, nicht ohne vorher den hölzernen Lastenaufzug zu betrachten, deren oberster Holzbalken derart durchgebogen ist, daß er Schlimmes befürchten läßt. Im Tal angekommen, fühlen wir uns in dessen Schatten wie gerettet von der Hitze des Felsens, die uns im Abstieg auszudörren schien.
Andern Tags ist Viehmarkt am Eisack, die Bauern kommen in ihren blauen Schürzen herbei, zum Teil mit Korb, und ganz eigenen Wägen, die nur zwei kleine Räder besitzen, während die hinteren Räder durch gespreizte Holzleisten ersetzt sind, die dem Wagen auf den Bergwegen den nötigen Halt geben.
In der Kapuzinerkirche suchen wir vergeblich nach Gemälden von Leonardo da Vinci und Tizian und erfahren zu spät, daß diese in der Schatzkammer des Klosters aufbewahrt werden. Eine strenge Verbottafel schreckte uns, als wir das Kapuzinerkloster betreten wollten.
Nach zwei Tagen gelüstet uns nach kühlerer Höhenluft. Wir setzen uns in die Motorpost, einen alten, kleinen Kasten, der sich aber als zäh und verläßlich erweist. Über dem Lenkrad hängt ein Kruzifix mit Rosenkranz. Steil geht es hinauf nach Seis. Ein prächtiger Ort am Fusse des Schlern. Wir wohnen im Hotel Edelweiß, gar freundlich begrüßt von dem jungen Hotelier, einem eifrigen Mann, der es immer eilig hat.
Zweimal fahren wir nun hinaus in dem Klapperkasten zur Seiser Alpe. Die Bauern mähen mit der Sense das kurze Gras, häufen es auf Tücher und bringen es so in die Alphütten, aus denen uns der strenge, würzige Duft des Heus in die Nase steigt. In der weiten Runde stehen überall hohe Berge. In Urzeiten war das Gebiet vulkanisch. Auch diese Alpe war offenbar vor Millionen Jahren ein Vulkan, längst erloschen, doch zeugt die rote Erde und das Porphyrgestein, daß es nicht aus dem Innern der Erde kam. Jetzt ist der Boden überall mit saftigem Grün bewachsen und soll im Frühjahr ein Blütenmeer sein, wie es in dieser Pracht nicht leicht zu finden ist. Das Gedröhne von Flugzeugen läßt uns nach oben blicken. Viele Fallschirme entfalten sich. Italienische Fallschirmtruppen üben im Manöver.
Auch in Seis hält es uns nicht. Nach vier Tagen zum Abschied ein Intermezzo: Die Hotelsekretärin verrechnet sich erheblich zu ihren Gunsten und hat wahrscheinlich in ihren Büchern einen geringeren Betrag eingetragen, als in der Rechnung steht. Erst nach längerer Unterredung ist sie bereit, die Rechnung zu berichtigen und zu quittieren.
Mit Motorpost weiter nach Bozen, durch deren Laubengänge wir wandeln, und von da mit Zahnradbahn hinauf auf den Ritter nach Oberbozen, vorbei an reifenden Weintrauben, Obstgärten mit goldgelben Pfirsichen. Oben sind wir wieder im Krater eines riesigen, erloschenen Vulkans. An manchen Stellen stehen reihenweise Erdpyramiden, deren Entstehung wir lange am abendlichen Eßtisch des Miglerjofs, in dem wir wohnen, mit norddeutschen Studienrätinnen diskutieren. Wir einigen uns schließlich dahin, daß diese Pyramiden dadurch entstehen, daß die rote Porphyrerde durch Zusatz von Wasser klebrig wird und dort, wo große Steine sind, unter diesen die Erde nicht so rasch ausgewaschen werden kann und so unter dem Stein eine Farbsäule bestehen bleibt.
Die Tochter der Miglerhofbäuerin sagt uns, daß weiter unten am Hang ein Mann namens Burger wohnt. Das veranlasst uns, diesen zu suchen. Wir fragen im Untermiglerhof den Bauern namens Josef Figl nach dem rechten Weg. Sogleich lädt er uns zu Wein und Most. In seiner Stube zeigt er uns die eingeschnitzte Jahreszahl 1611 im Balken der Decke. An der Wand sein Wappen, von Erzherzog Leopold 1530 gestiftet. Ein alter Ofen mitten im Raum, über dem ein hölzerner Aufbau errichtet ist, auf dem im Winter vermutlich geschlafen wird. Wir photografieren schließlich drei Ehepaare mit acht Kindern und versprechen, die Aufnahmen zu übersenden. In der Ferne, über dem Giebel der strohgedeckten Scheune, liegt auf der anderen Seite der Schlucht, für uns unerreichbar, weit oben ein alter Hof, der Burgerhof
Wir gehen weiter und kommen an ein neu erbautes Haus, vor dem ein Mann mit einem Knaben steht. Er heiße Burger, sagt er und es gebe mehr dieses Namens in Südtirol. Er lächelt und dieses Lächeln und sein Gesichtsausdruck läßt uns folglich an unseren Neffen Ernst denken. So mögen wohl meine Urahnen in Südtirol oder in Graubünden in der nahen Schweiz, dessen hohe Berge herübergrüssen, gelebt haben.
Auf dem Heimweg zum Miglerhof steigen wir auf schmalem, steilen Pfad empor, vorbei an einem Bauernhaus, beschattet von Edelkastanien, und bitten die Frau des Hauses um ein Glas Wasser. Mit schlichter Hilfsbereitschaft, wie sie wohl nur in so abgelegenen Gegenden anzutreffen ist, bringt sie nicht nur den Krug mit Wasser, sondern auch eine Bank, die sie zuerst reinigt und dann noch mit Papier belegt, worauf wir zum Sitzen genötigt werden. Wir betrachten die Landschaft und den steilen Hang, an dem die Felder liegen, ein Bild des Friedens, aber auch der Mühsal seiner Bewohner. Lieber wollte sie sich als Magd verdingen, sagte die ledige Tochter der Miglerhofbäuerin, als dort leben. Man könne dort nicht leicht Hilfe finden, wenn man dort erkranke. Wie die Kinder im Winter den stundenlangen schweren Weg zur Schule finden, ist uns unerklärlich.
Am letzten Tag auf dem Ritten ist Kirchtag und nachmittags ein Waldfest. In grünroten Trachten begeben sich die jungen Leute zur Festwiese. Drei Musikkapellen sind aufgeboten und auf kleinen Wagen, von Ochsen gezogen, sind eine Schusterwerkstatt, eine Schmiede, blumengeschmückte Kinder aufgebaut. Voran Reiter und Reiterinnen in alten Trachten mit breitrandigen, federgeschmückten Hüten.
Zuvor jedoch zeigten sich italienische Alpinis, feldmarschmäßig ausgerüstet, mit Gewehren und Maschinenpistolen. Sie fahren absichtlich den gleichen Weg, den der Festzug nimmt, wohl zur Abschreckung vor möglichen Attentaten, die zur Zeit wieder vorkommen.
Auf der Festwiese sind Holzhütten mit Bier und Würsten, Kaffee und Mehlspeis aufgebaut, ein Glückshafen, ein handgetriebenes Karussell, aus Holzbalken auf einfachste Weise zurechtgezimmert, eine kleine Tanzfläche. Auch ein Kegelspiel, ein Boccia, ein Würfelspiel sind da mit je einem angebundenen Preisschild. Alles wird überragt von einem etwa zehn Meter hohen, glatten Mast, den zu erklettern den Burschen nicht leicht fällt. Die gutbesetzte Musikkapelle spielt herrlich, weit besser, als wir es je von dörflichen Musikanten gehört haben. Wir lagern auf dem Grasboden und erfreuen uns dieser einfachen ganz und gar unkompliziert erscheinenden Welt.
Es sind fast nur deutsch sprechende Menschen zugegen. Doch vor uns liegen zwei italienische Familien, unter denen der eine Mann unverkennbar nördlich geprägt ist. Die Knaben beider Familien vergnügen sich, indem sie sich balgen, nie aber auf derbe Art, sondern mit reizvoller Grazie.
Am Abend dieses letzten Tages erstrahlen die Berge ringsum in prächtigen Farben, die Dolomiten ganz in sattem Rot, dazwischen Violett in allen Schattierungen.
Nach sechs Tagen auf dem Ritten müssen wir wieder hinab nach Bozen und von da über den Brennerpaß zurück nach Neu-Ulm.

Geschrieben von meinem Vater ca. 1960

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 08:28
von BO
SCHÖN!

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 11:16
von Todd
Ja, wirklich schön!


Über Südtirol, strano animale, könnte man ganze Abhandlungen schreiben...


Ich hab' es leider nicht in so guter Erinnerung, war allerdings bisher erst 1x dort.

Furchtbares Wetter, obwohl Mai (2005; OK, kommt überall mal vor), miesestes Essen, vom einheimischen Restaurant über Pizzerien bis zum makrobiotischen Frass, wirklich ganz gräuslich, unverschämte Kellner, freche Kinder, unmögliche Öffnungszeiten der Läden, teure Preise, usw, ständig irgendeiner, der mich anpflaumte, ich spräche die falsche Sprache (wenn Dt., dann hätt' man gern Ital. gehört und andersrum) -> also war ich besser still....

Ist heute noch ein geflügeltes Wort hier: "Ti porto a Bolzano!" :mrgreen:

Naja, irgendwann start' ich einen neuen Versuch...


LG

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 11:21
von Pietro
Todd hat geschrieben: miesestes Essen, vom einheimischen Restaurant über Pizzerien bis zum makrobiotischen Frass, wirklich ganz gräuslich, unverschämte Kellner, freche Kinder, unmögliche Öffnungszeiten der Läden, teure Preise, usw, ständig irgendeiner, der mich anpflaumte, ich spräche die falsche Sprache (wenn Dt., dann hätt' man gern Ital. gehört und andersrum) -> also war ich besser still....
Ich glaub, da warst Du am falschen Ort ???

Ich habe in Südtirol eigentlich nur freundliche Menschen erlebt. :D

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 11:48
von Todd
Bozen und Meran....


Möglicherweise hatte sich die wetterbedingte Lage bei allen auch stimmungsmässig niedergschlagen... :mrgreen:

Nächstes Mal hab' ich vllt mehr Glück...


LG

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 13:24
von luigina
Also ich hab bis jetzt in Südtirol immer traumhaft gegessen, sehr nette Leute kennengelernt und hab mich auch wohlgefühlt. Auch die Preise finde ich jetzt noch "human". Bis auf die furchtbare Schimpferei auf die Italiener war es wirklich schön. Ich fahre im März mit meiner Tochter das erstemal seit 1992 wieder in das Dorf, in dem wir früher Urlaub machten und wo ich noch "Ex-Verwandtschaft" habe. Meine Tochter will unbedingt ihre Oma besuchen, es geht ihr wohl nicht besonders gut.

Re: In Südtirol 1960

Verfasst: Dienstag, 26.02.2008, 13:49
von Todd
Also,

ich geb' ja zu, dass ich, was das Futter angeht, recht heikel bin:

Fleisch und Fisch kommt mir nicht auf den Teller; und dann hass' ich dieses schwere, fettige klatschige Zeug... bis auf Pfannekuchen, Roggenbrot, einige Aufläufe, und allgemein Torten und Kuchen, verabscheue ich deutsche Küche (und deren Ableger davon, die sie noch rechts zu überholen suchen, wie die österreichische oder deutschschweizer Ausprägung.... igitt i pfui würg )....

Mit Quark, saurer Sahne und so'm Zeug kann man mich jagen... und wenn ich schon das Wort "Butter" nur höre... oder "Schmand" oder "Schmalz"...

Kann deswegen auch die kulinarischen 3ds nicht lesen...

Jedesmal, wenn ich meine, ich könnt' mal wieder 'n paar Kilo verlieren, fahr' ich für'n paar Tage nach Deutschland...


LG