Italien in Not

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leonessa
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Re: Italien in Not

Beitrag von leonessa »

Auguro una buona giornata a tutti,

Italien krankt an der Bürokratie, welche ausufert und schlecht umgesetzt wird.
Dazu kommt die räuberische Mentalität derer, die etwas zu bestimmen haben.

Wir haben unser Grundstück gekauft - außerhalb des Ortes.
Als die Baugenehmigung fertig war, durften wir Erschließungskosten bezahlen.
Inclusive Notar und diversen Formularen waren das für ein "casa di campagna" knappe 9000 Euro, die nicht eingeplant waren.
Eine Erschließung findet jedoch nicht statt und ist auch nicht geplant.

Das ist Italien.
Der still auf kommunaler Ebene teils eingeführte "federalismo" brachte nur eins: viel weniger Geld für Kommunen, die nun auf Raubzug gehen bei den Einwohnern.

Da mein Mann Pugliese ist und zwischen D. und I. pendelt bis wir in D. unser Haus verkauft haben, schockiert uns das nur noch zum Teil.

Sagen wir mal so - in D. kann jeden Tag eine Rechnung für Straßenausbau ins Haus flattern - und keinen interessierts, ob man die 5000 - 15000 oder noch mehr hat oder nicht.
Zumindest bis jetzt ist man davor in I. noch sicher.

Aber eins ist klar - die goldenen Zeiten sind vorbei.
Vielleicht kommen die Eurobonds, dann hat Italien wieder Luft und Deutschland zahlt was mehr, macht nix.
Denn mit wirklichen Reformen (Berufe freigeben, Bürokratie abbauen) hat Italien ein riesiges Potenzial.
Wäre die Bevölkerung allerdings so wie in Deutschland - in vorauseilendem Gehorsam den Nachbarn anzeigen beim kleinsten Gesetzesübertritt (Bauvorschriften sehr beliebt!), Angst vor Arbeit ohne Rechnung etc. - in Italien wären die Lichter schon lange ausgegangen.

Im südlichen Italien lebt es sich noch einigermaßen gut WEGEN und nicht TROTZ der typischen Mentalität "Leben und Leben lassen".

Nur krank darf man nicht werden ohne die Möglichkeit, mit ein paar Scheinen zum Doc zu gehen..

Saluti - leonessa
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Re: Italien in Not

Beitrag von Marea »

Ciao leonessa!
leonessa hat geschrieben:Wäre die Bevölkerung allerdings so wie in Deutschland - in vorauseilendem Gehorsam den Nachbarn anzeigen beim kleinsten Gesetzesübertritt (Bauvorschriften sehr beliebt!), Angst vor Arbeit ohne Rechnung etc. - in Italien wären die Lichter schon lange ausgegangen.
Wie unterschiedlich man die Dinge doch sehen kann. :zwinker:
Ich denke genau das Gegenteil: gerade WEIL in Italien dieser menefreghismo und das gezielte Umgehen gewisser notwendiger Regeln vorherrscht, ist die Lage so wie sie ist: mieserabel für die, die nicht egoistisch und kriminell handeln wollen oder können.

Sieh Dich um, in Apulien: ganze Stadtviertel wurden schwarz gebaut... unzählig viele sehr gut verdienende Bürger geben sich als mittellose Geringstverdiener aus und kassieren fröhlich ohne Rechnung... was Du offenbar als positiv ansiehst.
In Italien sind die Lichter Deiner Meinung nach noch nicht ausgegangen, weil man dort ohne Rechnung arbeitet und die Leute schwarz malochen lässt?

Und wer zahlt Deiner Meinung nach die Leistungen, von denen auch diese "Freidenker" profitieren? Leben und leben lassen... auf Kosten derer, die nicht der Kaste der menefreghisti und approfittatori angehören können oder wollen.
Nur krank darf man nicht werden ohne die Möglichkeit, mit ein paar Scheinen zum Doc zu gehen..
Ja... schade, dass dann gerade die, die durch Schwarzarbeit ihre Kohle kassieren die Scheinchen haben und die, die mit ihren Steuern das Gesundheitswesen mehr schlecht als recht am Laufen halten, sich diesen Luxus nicht leisten können.

Ich hätte ausserdem noch ein paar "Nur-s" beizusteuern... gerade was das Leben im goldenen Süden betrifft. :zwinker:
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leonessa
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Re: Italien in Not

Beitrag von leonessa »

Salve Deny,

vielen Dank für Deine Antwort.
Wir sehen das nicht unterschiedlich, ich sehe genauso die Ungerechtigkeit wie Du.
Es sollte keine Wertung sein.

"Sieh Dich um, in Apulien: ganze Stadtviertel wurden schwarz gebaut... unzählig viele sehr gut verdienende Bürger geben sich als mittellose Geringstverdiener aus und kassieren fröhlich ohne Rechnung... was Du offenbar als positiv ansiehst."

Positiv sehe ich das nicht. Das einzig Gute daran ist, dass die ihr Geld ausgeben im Lande und damit das bißchen Geschäftsleben am Leben halten.



"Nur krank darf man nicht werden ohne die Möglichkeit, mit ein paar Scheinen zum Doc zu gehen.."

Das ist richtig übel.
Und meine Worte sollten eine Kritik darstellen.
Habe es selbst erlebt: Entweder Röntgen im Oktober (das war Anfang Juni) - oder 40 Euro bezahlen für eine winzige Röntgenaufnahme, schlecht gemacht, Gerät aus den frühen 80ern..

Wer sich die Krone nicht leisten kann,der läuft eben mit Zahnlücke rum.
Wer sich die Wurzelbehandlung nicht leisten kann, der läßt ziehen.
Selten so viele Zahnlücken gesehen wie in Süditalien.

Sehende erhalten Pensionen, Reiche kaufen Grund und Boden und Baugenehmigungen.

ABER:

Ich sehe das als momentan einzige Chance - weil die Menschen ihr Geld in reale Werte stecken. Und weil es im Land bleibt.
Jeder, der einen Schwarzbau errichtet, wir gehören nicht dazu - wir haben keinen Bock auf Stress und Erpressbarkeit, bringt Verdienst unter die Leute in seinem Umkreis.
Die Schattenwirtschaft und die "Organisation" sind, abgesehen von ineffektiven Kommunen, die einzigen Arbeitgeber.

Streiche unnütze Beamte, nimm die ungerechtfertigten Pensionen weg, vernichte die Schwarzarbeit - und dann?
Klar, dann sind alle gesetzestreu - aber:

Dann muss der Staat ein Sozialsystem bieten.

Verhungern lassen kann der Staat die Menschen nicht, das gäbe totale Anarchie.
Mit Hartz4 kann der Staat sein Volk bändigen.
Ohne hat er ein Problem.

L'arte di arrangiarsi ist oft die einzige Möglichkeit.
Dass davon die Cleveren, die Reichen profitieren ist klar. Aber die bringen in der Gegend Geld in Umlauf wenn nach 3 Monaten Tourismus noch 9 magere Monate folgen.
Sie besuchen die Restaurants, bauen, kaufen, kleiden sich.

Vieles ist kritikwürdig, nur steht für mich die Sozialreform an erster Stelle.
Haben die Leute ein Dach, Essen und Gesundheitsfürsorge garantiert trotz fehlender Arbeitsplätze, dann kann man die Schwarzarbeit ausräuchern. Dann sind die Menschen nicht mehr gezwungen, sie anzunehmen.
Irgendwie ist das wie mit der Henne und dem Ei.

Übrigens finde ich es toll, dass man hier im Forum mehr findet als Rezepte, Fotos und Nebensächlichkeiten. Vielen Dank für das anregende Gespräch.

Saluti - leonessa
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Re: Italien in Not

Beitrag von Marea »

Wow, super leonessa... das ist doch mal eine schöne Sonntagabend-Diskussion! :D

Du hast Recht mit Deiner Aussage, dass es bei der momentanen Situation ohne Schwarzarbeit nicht geht... viele Selbständige, die nicht die Möglichkeit haben, schwarz zu arbeiten und daher die horrenden Steuern zahlen müssen, gehen früher oder später pleite. Oder sie organisieren sich entsprechend und werden selbst zu Steuerhinterziehern.
Aber das ist halt leider der Knackpunkt: die Schwarzarbeit macht die ehrliche Arbeit kaputt. "Durchgegriffen" wird auf völlig uneffiziente, scheinheilige Art und Weise.
Es gibt ein Sprichwort, das es auf den Punkt bringt: A volte la legge è come una ragnatela. Nelle sue maglie passa il moscone e resta impigliato il moscerino.

Jedesmal, wenn in Italien eine neue Regierung "andere Seiten aufzog" um gegen Steuerhinterzieher vorzugehen, war das Ergebnis, dass kleine Unternehmer ruiniert wurden und man neue Hintertürchen für die grossen Fische fand. Und ganz ehrlich... ich glaube nicht, dass man so handelte, um das Land vor der Pleite zu retten. :zwinker:

Es ist wahr, dass die Schattenwirtschaft eine wichige Rolle einnimmt... aber gerade das ist es, was das Land dahin gebracht hat, wo es jetzt ist. Man kann die Wirtschaft eines Landes, oder zumindest einiger Regionen, nicht auf Schwarzarbeit und Schwarzbauten basieren. Dass es nicht funktioniert, zeigt sich Jahr für Jahr deutlicher.

Einige werden steinreich (und machen auch so manchen Beamten glücklich, der von Bestechungsgeldern gut lebt), viele leben mehr schlecht als recht durch die unterbezahlten Jobs, die ihnen von diesen Rettern der Nation angeboten werden... und irgendwann stehen sie da, arbeitslos und/oder krank und/oder alt und irgendwie muss sie dann doch der Staat auffangen. Oder eben nicht. Und dann?
Grossfamilien, die sich irgendwie gemeinsam tragen, gibt es kaum noch und wird es immer weniger geben, weil man sich in Italien kaum noch ein Kind leisten kann.


L'arte di arrangiarsi ist oft die einzige Möglichkeit.
Das ist leider wahr... aber ich fürchte, dass diese Kunst schon bald nicht mehr praktizierbar sein wird.
Dass davon die Cleveren, die Reichen profitieren ist klar. Aber die bringen in der Gegend Geld in Umlauf wenn nach 3 Monaten Tourismus noch 9 magere Monate folgen.
Sie besuchen die Restaurants, bauen, kaufen, kleiden sich.
Und sie bringen die organisierte Kriminalität mit sich, die immer dreister, immer gewalttätiger wird. Und die wenigen Geschäftsleute, die sich dagegen wehren, haben das Nachsehen. :(
Vieles ist kritikwürdig, nur steht für mich die Sozialreform an erster Stelle.
Haben die Leute ein Dach, Essen und Gesundheitsfürsorge garantiert trotz fehlender Arbeitsplätze, dann kann man die Schwarzarbeit ausräuchern.
Nur... wenn man nicht vorher etwas an der Mentalität und den momentanen Verhältnissen ändert, dann bleibt nichts übrig als diejenigen, die jetzt Steuern zahlen (müssen), noch mehr zur schröpfen. Und das bedeutet noch mehr Arbeitslose (weil noch mehr Betriebe preite gehen), noch mehr Schwarzarbeit, noch mehr Kriminalität.
Man kann leider das Problem nicht von hinten lösen. Entweder, man bittet endlich diejenigen zur Kasse, die sich bisher fröhlich über die Regeln hinweggesetzt haben, oder man wartet und hofft weiter, dass irgendwann irgendjemand kommt und ein Wunder vollbringt.

Ich kenne viele dieser Leute, die sich seit Jahrzehnten arrangieren... sprich z.B. mit schwarzgebauten Ferienanlagen zu 100% schwarzes Geld verdienen. Würde man sie zur Kasse bitten, dass würden sie nicht pleite gehen. Sie könnten sich vielleicht nicht alle zwei Jahre ein neues Auto leisten und nicht jeden Winter ein paar Urlaubsreisen und nicht jedes Jahr noch ein paar neue Wohnungen, die man schwarz vermieten kann. Aber sie könnten trotzdem noch arbeiten und davon recht gut leben.
Aber sie müssten eine ganz dramatische Mentalitätsänderung durchmachen und das ist das grösste Problem, solange die Leute davon überzeugt sind, dass sie nichts Unrechtes tun, weil sie es ja schliesslich sind, die die Wirtschaft am Laufen halten.

Griechenand ist leider in dieser Beziehung ein trauriges Beispiel. :?

Italien hat das Privileg, über wesentlich mehr und vor allem vielfältigere Ressourcen zu verfügen als Griechenland. Aber wenn die Leute nicht endlich kapieren, dass man Illegalität nich mehr schönreden kann, dass sie das Land und die Leute eben nicht zu faszinierenden Lebenskünstlern macht, sondern entweder zu Kriminellen oder zu Feiglingen, die aus Bequemlichkeit wegsehen, dann wird sich nie etwas ändern.
Vielen Dank für das anregende Gespräch.
:) Es war mir ein Vergnügen! Gerne mehr davon!
StefanM.
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Re: Italien in Not

Beitrag von StefanM. »

Ich muss Deny recht geben, solange Steuerhinterziehung als Volkssport angesehen wird, kommt Italien auf lange Sicht leider nicht auf die Beine. Ich kann mich da lebhaft an eine Diskussion mit meinem Nord-Italienischen Schwiegervater erinnern, der sich fuerchterlich aufgeregt hat, weil ich beim "meccanico di quartiere" fuer die Reparatur meines Autos eine Rechnung wollte.....

Vorne in das System nichts einzahlen und hinten nur rausziehen wollen kann (wie Griechenland so wunderbar vormacht) auf lange Sicht nicht funktionieren. Allerdings, muss man Italien hier wohl oder uebel in 2 oder sogar 3 Teile aufteilen. Sicher, Korruption und Steuerhinterziehnung gibt es ueberall, aber Statistiken belegen auch, das der "Mezzogiorno" teilweise zu 100% keine Steuern zahlt, waehrend die Zahl der Hinterzieher in Mittel- und Norditalien deutlich geringer ist. Bei den Gesundheitskosten habe ich just die Tage eine Meldung gesehen dass der "Ineffizienz-Index" (also der Faktor wieviel im Vergleich zu den geplanten "normalen" Kosten mehr ausgegeben wird) in Nord-Italien bei rund 25% liegt, in Mittelitalien auf um die 30% steigt und im Sueden bei ueber 50% liegt.

Vom System der Schwarzarbeit profitieren am Ende immer nur die, die auch schwarz arbeiten koennen. Und am Ende wundern sich alle, warum sie keine oder kaum Rente vom boesen Staat bekommen (klar, wer nix einzahlt...) und sich dann "arrangieren" muessen bzw. anfangen auf alle moeglichen Arten zu betruegen (falsi invalidi etc.)

Es ist klar, dass ein Strukturwandel her muss, aber erstmal muss ein Dieb ein Dieb sein und kein "Furbo"!

Stefan
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Re: Italien in Not

Beitrag von j.l. »

@ done
Wer als Journalist ins Internet geht, dem ist bewusst, dass er sein geistiges journalistisches Eigentum veroeffentlicht. Wenn man ihn dann korrekt zitiert mit Quellenangabe und Namen, kann er doch nur froh sein, wenn ihn moeglichst viele Leute lesen. Meiner Meinung nach muss etwas explizit verboten sein, um nicht, selbstverstaendlich korrekt zitiert, wiedergegeben werden zu koennen.
Solltest du anderer Meinung sein, kannst auch du streichen, ich will es jedenfalls nicht tun.

Was die Situation Italiens anbelangt, ist sie vielleicht noch viel schlimmer, als wir "Pessimisten" sie uns vorstellen. Heute gehoert: von 50 Neubauwohnungen mit den hoechsten Standart, was Qualitaet, Standort, akustische und thermische Isolation anbelangt, wurden erst 5 verkauft. Das wirklich traurige ist, dass fuer die restlichen 45 weit und breit keine Kaeufer in Sicht sind.

Vorteilhaft ist natuerlich, wenn es keine Nachfrage nach Gebaeuden gibt, werden vielleicht auch die Schwarzbauten weniger.
Marea
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Re: Italien in Not

Beitrag von Marea »

j.l. hat geschrieben: Meiner Meinung nach muss etwas explizit verboten sein, um nicht, selbstverstaendlich korrekt zitiert, wiedergegeben werden zu koennen.
Das Urheberrecht sieht das etwas anders. :zwinker:
Um Diskussionen (ob mit Autoren oder Moderatoren) zu vermeiden, einfach einen kurzen Textabschnitt zitieren und zum Rest verlinken. Letzteres ist grundsätzlich erlaubt. :zwinker:
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