I Misteri

Puglia
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lanonna
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I Misteri

Beitrag von lanonna »

Und weil es auf Ostern zugeht:

I Misteri – Mystik – Glaube – unglaubliche Gefühle

Ostern in Taranto - die Settimana Santa wird bestimmt von jenen alten katholischen Riten, die schon zur Zeit der Spanier festgelegt und im 17. Jahrhundert festgeschrieben wurden. Seither ergreifen sie unverändert jeden Besucher mit den Gefühlen aus der Tiefe der Seele einer ganzen Stadt. So heißt es.

Und so ist es.

Man muss nicht gläubig sein, um sich betroffen zu fühlen, um sich von den Geschehnissen von vor zweitausend Jahren in der Erzählung und der Darstel-lung von heute mitreißen zu lassen. Auch wenn das Aussehen, die Kleidung, die Verkleidung der Prozessionsteilnehmer gewöhnungsbedürftig und erst einmal irritierend sind, erinnern sie doch eher an den Ku-Klux-Clan.

Zwei Tage scheint die Zeit still zu stehen, die Tage der Passion. Es sind 48 in-tensive, mitreißende und zutiefst ergreifende Stunden, denen sich niemand entziehen kann, in denen alle ihre täglichen Sorgen vergessen und sich jeder als Teilnehmer der Prozessionen fühlt zusammen mit den „perdùne“, den Büßern. Man erlebt jeden Moment der Mühen der Prozessionsteilnehmer, em-pfindet die Qualen Christi, und begleitet die Büßer Schritt für Schritt auf ihrem ca.1.900 m langen, zermürbenden Weg.

Taranto i s t die Settimana Santa.

Ich habe nicht nur einmal am Wegesrand dieser Prozession gestanden, bin an ihr entlang gelaufen im Prozessionsweg, habe fotografiert, berührt, an Tränen geschluckt, habe mich so unendlich zugehörig gefühlt. Jede Note der Trauermusik, zuerst fremd und verwirrend in ihrem schweren Klang, hat in mir Wider-hall gefunden, sich tief in meine Seele eingeprägt. Musik, die in ihrem Trauerklang dennoch Trost schenkt. Nicht erst heute, nein, seit vielen ungezählten Jahren.

Und doch ist jede Prozession neu, so alt die Geschichte auch sein mag. So viele Menschen, jung wie alt, hingebungsvoll, den Blick auf die alten schönen Statuen gerichtet – ein Kreuzweg in jedem Herzen, dessen Schlag sich der Bewegung der Perdoni, jenem Schaukeln, das die Tarantiner „a’nazzecate“ nennen, anpasst...

Von rechts höre ich gemurmelte Gebete, spüre, wie sie sich neben mir bekreuzigen in tiefem Glauben.

Links erklärt ein Vater flüsternd und voller Respekt seinem Sohn das Geschehen vor uns. Ob er auch schon mal als ein Büßer oder Träger mitgegangen ist?

Eine Frau drängt sich durch die Ordner, die wie die Perdoni vermummt sind, und legt mit sorgfältiger Geste einen Blumenstrauß auf das Podest einer Statue – es ist Gesù all’Orto, Jesus im Garten Gethsemane – und versinkt anschließend anbetend im Kniefall.

An der nächsten Straßenecke sehe ich Kinder mit Kerzen. Schweren dicken Kerzen, die sie kaum halten können. Frauen, barfuss wie die vermummten barfüssigen Perdoni.

Herr, Du bist unser Gott...

Stunde um Stunde stehe ich mit all den anderen hier, vergesse Zeit und Ort, spüre die Todesangst des Gekreuzigten, die Verzweiflung und unendliche Trauer seiner Mutter, habe das Bedürfnis, mit all den Menschen hier vor der Madonna, deren Schönheit im Leid, deren Anmut unter Tränen zutiefst beeindruckt, zu knien und empfinde körperliche wie seelische Erleichterung, als die letzte Banda, der letzte Musikzug das Lied der Schmerzensjungfrau anstimmt und an mir vorbei die Straße entlang marschiert, konzentriert auf die Prozession und ohne die Menschen am Straßenrand zu beachten.

Die Menge verläuft sich, Fröhlichkeit kommt auf, man verabredet sich. Ein paar Straßen weiter könnte man der Prozession noch einmal begegnen und dieses so unglaubliche Erlebnis noch einmal verspüren...

Oder man versucht, in einem der überfüllten Ristoranti noch einen Platz zu ergattern. Schließlich bleibt noch viel Zeit bis zur Rückkehr der Prozession.

Und wenn die Perdoni, die Mazzieri und die Träger ihre Pause in der Kirche San Francesco di Paola macht, ist es auch Zeit für die Ruhepause der Zuschauer. Und morgen um neun Uhr, wenn der Troccolante an der Kirchentür der Chiesa del Carmine klopft – dreimal, so ist es Brauch – dann stehen sie alle wieder betend da. Sie stimmen murmelnd ein in die dreimaligen Bitten des Troccolante um Aufnahme in der Kirche, um ein Grab für unseren Herrn.

Endlich öffnet sich die Kirchenpforte. In der Langsamkeit, die diese Prozession prägt, kehren die Statuen, die Mazzieri, die Perdoni und all ihre Helfer und Begleiter in ihre Kirche zurück.
Fröhliche Ostern, Buona Pasqua!

aus meiner Sammlung „Puglia mia“

Lanonna
Freunde wirst du viele lieben, wie es Muscheln gibt am Meer,
doch die Schalen, die dort liegen, sind gewöhnlich alle leer.
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Re: I Misteri

Beitrag von lanonna »

Ja, meine Geschichte, die ich hier eingestellt habe, lebt jedes Jahr neu. Und ich kann gar nicht abwarten, bis ich die Prozession wieder erleben kann - wenn auch in diesem Jahr nur im Fernsehen.

Schade ist natürlich auch, dass ich meine Miniatur-Prozession nicht aufstellen kann. Es sind 225 Figuren, für die ich 6 m Platz brauche.
0506_04 meine Ausstellung klein.jpg
Das ist eine der schönsten und eindrucksvollsten Figuren in Miniatur: Jesus fiel zum ersten Mal heißt sie.

Wenn es euch interessiert, suche ich auch mal ein Originalfoto heraus.

Herzlichst

Lanonna
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